Einführung in die Ausstellung Out of the Dark (2013)
von Medea Hoch, Kunsthistorikerin
Verehrte Gäste – ob Sie sich in „Out of the Dark“, dieser Ausstellung von Patricia Hämmerle, auch vorkommen wie in einer Wunderkammer? In unserer Zeit scheinen die barocken Kunst- und Wunderkammern zu neuer Aktualität zu finden. Niemand wünscht sich das bedachte Chaos der Wunderkammer als Museum zurück. Doch angesichts dessen, dass sich die Grenzen von Kunst, Technik und Wissenschaft auf ähnliche Weise öffnen, wie dies die Wunderkammer vorgeführt hatte, gewinnt das historische Phänomen zusehends an Bedeutung.
Die Wunderkammer ist eine Welt im Kleinen. Sie vereint gleichwertig „Naturalia“ aus allen Reichen der Natur, „Artificialia“ wie antike Skulpturen, Automaten, Kunstgewerbe, Bilder, Münzen, Waffen, und „Scientifica“ wie Globen, astronomische Instrumente, Uhren und Wegmesser. Insbesondere mittels Kuriositäten spiegeln die Sammlungen die Vielfalt einer Welt wider, in der sich Naturwissenschaft und Mythologie zuweilen vermischen.
Doch kommen wir von diesen Gelehrtensammlungen zu Patricia Hämmerle, ebenfalls Forscherin, theoretisch wie künstlerisch. Ihre grundlegende Dissertation von 1996 mit dem Titel „Schattenriss der Zeit. Fotografie und Wirklichkeit“ vermittelt dies eindrücklich. Ausgehend von Roland Barthes Essay La chambre claire sieht auch Patricia Hämmerle im Haftenbleiben des Gegenstandes, in der Beglaubigung von Präsenz, ein Spezifikum der Fotografie. Vor allem interessiert sie indes, wie Fotografie aufgrund von Entscheidungen zustande kommt, Fotografie Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern schafft.
Patricia Hämmerles Bildersammlung folgt wie die Wunderkammer einem enzyklopädischen Prinzip, das alle Dinge, natürliche wie kulturelle, als gleichwertig erscheinen lässt. Wie die meteorhaften Mineralien begegnen der aufmerksamen Künstlerin Dinge sozusagen out of the dark, seien dies Steine mit gnomenhaften Formen, Schuppen von Zypressenzapfen, Muscheln aus der Lagune in Venedig in allen Farben – auch Fassadenfarben. In Patricia Hämmerles Werk zeigen sich eigene Bilder neben gefundenen, die sie abfotografiert oder scannt. Im Atelier der Kulturstiftung Landis & Gyr in London fand sie die Encyclopædia Britannica vor und scannte alle Darstellungen. Ausgewählte ethnografische Zeichnungen sind als kleine Siebdrucke in der Ausstellung zu sehen. Der Siebdruck ist eine Technik fotografischen Ursprungs. So hat es einen besonderen Charme, wenn sich einige der Siebdrucke auf alten Glasnegativen finden.
Exemplarisch für Patricia Hämmerles enzyklopädisches Interesse ist die letztes Jahr mit dem Swiss Photo Award gekrönte Arbeit Kingdoms, Reiche. Sie führt in sechs Fotografien, betitelt als mineral kingdom, plant kingdom, the unknown, kingdom of man-made things, animal kingdom, kingdom of men, die Welt vor Augen. Diese Arbeit zeigt mitunter, dass sich Ordnungen verändern, gab es doch in Carl von Linnés Systema Naturae zur Zeit der Wunderkammern gerade einmal drei Reiche, nur eines für Tiere und Menschen. Wenn Patricia Hämmerle einen zweibeinig gehenden Affen als Repräsentanten des Tierreichs und einen gesichtshaften Schnitt durch einen Kristall als Vertreter des Mineralreichs zeigt, visualisiert sie die Frage nach den Grenzen. Nicht nur the unknown befindet sich in einer Schwebe, auch das Bild für das Pflanzenreich zwischen Unterwasserwelt und Winterwald lässt sich kaum zuordnen.
In der Serie Basics gehen Kultur und Natur enge Verbindungen ein: Schwarzweiss- und Farbfotografien zeigen megalithische Werkzeuge und Bauwerke. Insbesondere die Dolmen, eine Art Steintische aus großen unbehauenen oder behauenen Steinblöcken, waren ursprünglich von Erdhügeln bedeckt und somit mehr Landschaft als Architektur. Das Dolmenbild fand Patricia Hämmerle auf einem alten Glasnegativ. Sie zeigt es in warmem Gelb auf einer Wand mit Hochhäusern aus New York. Denn, so Patricia Hämmerle, „alles hat mit allem zu tun“. Basics betitelt auch eine Serie von über 50 Grafitzeichnungen von Marmorplatten in einem Berliner Treppenhaus. Diese Arbeit geht der Natur in einem Gründerzeithaus nach. Sie changiert zwischen Miniatur und Landkarte.
Fast alle Arbeiten von Patricia Hämmerle befinden sich im Dazwischen. Das gilt besonders für ihre der Zeit enthobenen Venices, aufgenommen an Orten in Venedig, wo selten ein Mensch hinkommt. Venices, die Mehrzahl von Venedig, deutet wohl an, dass es ein Venedig aus Stein gibt und eines, das sich im Wasser spiegelt.
Die Arbeit Ferne Himmel. Goldene Zweige situiert sich durch Negativ-Verfahren zwischen Tag und Nacht. Vor schwarzem Himmel tragen kahle Zweige goldene Früchte, am Baum belassen für Götter und Vögel. Der Titel dieser Arbeit bezieht sich auf das Buch The golden bough, Der goldene Zweig, in dem es der Religionsethnologe James Frazer unternimmt, die Religionsgeschichte zu ihren magischen Ursprüngen zurückzuverfolgen.
Dunkelheit ist mit der Idee von Ursprung verbunden. So erzählt die Schöpfungsgeschichte von der anfänglichen Dunkelheit, aus der Himmel und Erde entstanden. Novalis zeichnet in seinen Hymnen an die Nacht den Weg der Erkenntnis als Rückkehr zu einem nächtlichen Ursprung, der die Vereinzelung aller Dinge rückgängig macht. In einem Text von Patricia Hämmerle zur Ausstellung Out of the dark heisst es: „Alles, was ist, stammt aus dem Dunkeln und geht wieder in eine Dunkelheit ein. Mineralien und Kristalle kommen mit ihrer ganzen Leuchtkraft aus dem Dunkeln, sowie der Tag, das Licht, die Sterne, wir selbst, die Welt, das All, die Pflanzen, die Pilze und alles, was aus dem Meer oder der Erde kommt.“
Ein Fragment von Novalis sagt „Alles ist Samenkorn“.
Auch der Fotografie ist das Thema der Dunkelheit immanent, denken wir an die Dunkelkammer, in der Patricia Hämmerle ihre Lichtbilder entwickelt, oder an die Camera obscura, deren Prinzip bereits Aristoteles beschrieben hat. Schattenbilder sind sozusagen primäre Fotografie. Patricia Hämmerle scheint von dieser Idee inspiriert, wenn sie in der Serie Tales of Light and Shade Zeichnungen von Schattenwürfen eines Baums in New York in Form von Kontaktprints neben nur beinahe monochrome, da dem Licht ausgesetzte Glasnegative setzt.
Patricia Hämmerle ist auch als Künstlerin Forscherin. Sie befasst sich konzeptuell mit dem Was und experimentell mit dem Wie. Fotografie versteht sie als bildnerischen Prozess, innerhalb dessen in zweidimensionaler Abstraktion neue Realität entsteht. Fotografie unterscheidet sich mehr von unserem Sehen, als wir gemeinhin denken, namentlich durch räumliche und zeitliche Ausschnitthaftigkeit, Schärfe, Unschärfe, Unter-, Über-, und Doppelbelichtung, Sehwinkel, Perspektive, Vergrösserung, Verkleinerung und Farbigkeit, zum Beispiel Schwarzweiss.
Findet sich das Bild in der dunklen Kamera, ist der Prozess für Patricia Hämmerle noch nicht am Ende. Sie arbeitet beim Entwickeln mit Negativ- und Kontakt-Verfahren sowie Farbveränderungen, indem sie Farben hinzufügt oder wegfiltert. Wie die schönen Mineralienfarben auf der Einladungskarte zustande gekommen sind, weiss denn auch nur die Künstlerin. Die Fotografien sind nicht immer auf glänzendes Fotopapier gedruckt. Da es Patricia Hämmerle nicht um das illusionistische Abbilden geht, haben ihre Bildträger zuweilen eine eigene Stofflichkeit. So gibt es Prints auf Leinwand und Aquarellpapier. Weiter bestimmt auch das Format einer Fotografie die Aussage mit. Und man möchte hinzufügen, dass auch die Rahmung, bei Patricia Hämmerle immer individuell, Anteil hat an der Komposition. So ist es denn weniger das Punctum – dieses Zufällige, das einen an einer Fotografie besticht –, als vielmehr das Zusammenspiel aller bildnerischen Aspekte, das die unvergleichliche Atmosphäre von Patricia Hämmerles Arbeiten ausmacht.
Während das altgriechische Wort techne sowohl die Künste wie auch alltägliches Handwerk bezeichnete, fallen die Bedeutungen von Kunst und Technik heute auseinander. In der Kunstgeschichte werden Bildfindungen denn auch häufig mittels formaler Vergleiche beschrieben. Viel weniger selbstverständlich ist dagegen die Vorstellung, dass technische Experimente zu Innovationen führen. „Und doch ist – ich zitiere aus Walter Benjamins Kleiner Geschichte der Fotografie –, was über die Fotografie entscheidet, immer wieder das Verhältnis des Fotografen zu seiner Technik.“
Out of the dark zeigt neben Fotografien in enzyklopädischer Vielfalt Zeichnungen, Objekte, Collagen, Siebdrucke, übermalte Buchseiten und als Premiere hier im Elektrizitätswerk Lichtobjekte.
In ihren humoristischen und politischen Bucharbeiten geht Patricia Hämmerle von so diversen Bilderbüchern wie alten Kunstgeschichtsbänden und Comicheften aus. Collagen lassen uns Blickbezüge in Ikonen der Kunstgeschichte neu lesen und versehen Schönheiten mit mineralisch funkelnden Köpfen. In den Übermalungen kippt etwa das positive Wort „strahlen“, wenn es sich neben einem japanischen Paar beim Tee befindet. Der einfache Satz „Die Welt gehört allen / ein bisschen mehr“ bekommt eine grosse Tragweite, wenn er von viel Schwarz umgeben ist. Und im Dunkel einer Bettszene mit Daisy Duck erscheinen die Ausrufe „ah, oh, so, eh già“ erotisiert.
Ah, oh, – ich stelle mir vor, dass solche Worte der Verwunderung in Patricia Hämmerles Ausstellung Out of the dark zu hören sein werden und danke für die Aufmerksamkeit.
NZZ-WUNDERKAMMER MIT LEUCHTEFFEKT
4.3.2013