Alexandria I-IV

1999 -2005

Alexandria I-IV
Erinnerung sei, so schrieb Blumenberg einst, nichts anderes, als die Durchsetzung von Identität gegen die Einbrüche von Diskontinuität, von Verlust, von Vergessen.

Filme sind Spuren, Lebensspuren. Ich folge den Bildern der Vergangenheit wie jemand einer Fährte folgt. Insofern suche ich nach Antworten auf die Frage, aus welchem Zentrum heraus ich arbeite, wir alle arbeiten, fühlen, denken, erinnern und vergessen, so dass die Bilder, die wir wählen und in uns haben, wie Steine in einem Gewässer sind, auf denen wir sicher über die Tiefen des Grundes schreiten. Manchmal aber verhält es sich genau umgekehrt. Sie sind dann wie Steine, an denen wir nicht vorbeikommen. Sie stellen sich uns in den Weg, sind gegen unsere Gewissheit und folglich auch gegen unsere Erinnerung gerichtet. Sie stehen gross da und verhalten sich zur Erinnerung wie verschiedene, uns konkurrierende Identitäten.

Die Filme aus meiner Kindheit haben ein eigenes Leben, eine eigene Richtung. Es sind nicht Bilder oder Momente, die ich aufgezeichnet habe, sondern jemand anderer, und ich schaue nachträglich durch diese Augen, so wie dieser Andere sah, wie er selbst sich sah oder das Aussen, seine Zeit.
Seine Bilder sind mit meinen nicht deckungsgleich. Mein Aussen ist ein anderes, ebenso mein Empfinden, mein Wollen, mein Tun, meine Vorstellungen und doch finde ich nachträglich in all dem Aufgezeichneten genaue Bilder; genau im Sinne von verdichteter Erfahrung: greifbar, nachvollziehbar. Sie berühren mich auf eine ganz bestimmte Weise, nicht, weil ich durch diese an ein Ereignis erinnert werde, – ich suche nicht Zustimmung -, sondern, weil etwas Allgemeines und Tiefliegenderes, etwas tief im Innern liegendes Menschliches in mir aufsteigt. Vielleicht erkenne ich eine Sehnsucht oder eine Verlassenheit, ein Alleinsein, eine Furcht oder eine Freude, ein Staunen, ein Verlangen.

Sah ich von den langen Momenten ab, auf denen die Familie abgebildet ist, oft winkend, zu oft vielleicht, als dass es nicht als Winken gegen die Zeit sich anfühlte, war ich anfänglich überrascht über das Aufgezeichnete und dessen Ähnlichkeit mit meiner bisherigen Bildaufzeichnung. Aber was zeichnet man denn sonst ab, ausser Landschaften und Häuser und andere Menschen und das Wasser um einen herum oder die Blumen auf der Wiese; die Schiffe, die vor dem Auge und der Seele vorbeiziehen oder die Berge im Hintergrund; die, sobald wir nicht zu sehen sind, sofort in den Vordergrund rücken. Sie sind gewaltiger, dauerhafter und ewiger in ihrem Sein und Fortbestand.
Dennoch hat mich die Ähnlichkeit erstaunt, auch in der Wiederholung: die blühenden Bäume und Wiesen und Blumen oder deren Metamorphosen durch die Jahreszeiten, vor allem auch das viele Wasser, an das man reiste oder an dem man wohnte. Es setzte sich in der Seele ab und beeinflusste – im wahrsten Sinn des Wortes – auch meine Bildinhalte.
Erinnerung ist eingeschrieben in den Körper, den Blick, den Wunsch, die Sprache. Erinnerung an den Ursprung ist somit Abdruck, sie ist auch eigene körperliche Gegenwart, eine Gegenwart von Vergangenem, zu dem wir geworden sind.

Jedes Entdecken ist ein Finden und Erfinden, das unsere Erfahrung neu formuliert und somit neue Kontinuitäten bildet. Kontinuitäten im Plural, weil Festgesetztes dadurch kontinuierlich umgedeutet wird (werden kann), weil diese Einbrüche der Kontinuität, dieses Vorhandensein von Nacht, von Abwesenheit, als Absence oder ‘Ab-Sens’ (im Sinne von Nicht-Sinn) sich im allgemeinen und glücklicherweise nicht durchsetzen auf unserem Weg durch die Zeit. Sinnfindung in diesem Spiel der Fort-Dauer, bedeutet, wie es im Duden heisst, ursprünglich “Gang, Reise, Weg” und meint damit “eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen”.

 

Es war auch die Frage nach dem Aufzeichnungsmedium selbst da, die mich zu interessieren begann. Erinnerungen stehen immer auch mit dem jeweiligen Aufzeichnungsmedium in Verbindung. Hier sind es die spezifischen Kodak-Farben, die spezifische Schärfe oder Unschärfe, die Kontraste, die Fehler in der Belichtung, die kurze Dauer der Filmsequenzen, die mit der begrenzten dreiminütigen Dauer der Filmrolle in Verbindung gesehen werden muss. Gestaltungsmittel beeinflussen die Wahrnehmung -auch im Nachhinein. Bilder in 8-mm- und Super 8-Filmen fliessen anders ineinander über als Bilder in Videoaufnahmen. Es sind durch dieses andere Fliessen und durch das andere Material auch andere Zwischenwelten da. Die Suche nach oder das Auffinden von (optisch) Verborgenem ist Teil meiner Auseinandersetzung geworden.
(1999 / 2005)